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Eine kurze Abhandlung über meine Arbeit findst Du hier:

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Dr. Franz Littmann:

Das Bild hat nur den Sinn, den man ihm gibt – zu den Arbeiten von Lutz Schoenherr

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Wir sind die Präsenzunfähigen, behauptet der Philosoph Peter Sloterdijk. Statt sich mit dem Hier und Jetzt auseinanderzusetzen, dominiert die technische Bequemlichkeit. Ein Foto „aufnehmen“, bedeutet: eine Vorkehrung treffen. Behalten und aufbewahren wollen, heißt: entfliehen. Man fotografiert, um nicht anwesend sein. Wenn Touristen aus dem Bus aussteigen, ein Foto aufnehmen und erleichtert wieder einsteigen, flüchten sie vor dem Fremden. Vor dem, was sie nicht sofort verstehen. Oder vor dem, was sie mit „schön“ etikettieren. Das stecken sie in den Kasten und halten es damit auf Distanz. Ausgeschlossen ist so eine wirkliche Begegnung mit dem Gegenwärtigen.

Dieser Einstellung vollkommen entgegengesetzt ist die „graphic art work“ von Lutz Schoenherr. Sperrig zeigt sie Bekanntes, aber, wie der Maler Stefan Kunze festgestellt hat, „weit vom real Sichtbaren entfernt“. Indirekt und diskret fordert die Zwecklosigkeit seiner Arbeiten dazu auf, sich dem Gegenwärtigen zu überlassen. Und das, was augenblicklich im Fokus ist, zu betrachten. Es geht darum, anwesend zu sein und auf das Unbekannte, noch nicht Eingeordnete, zu reagieren.

Indem die verspielte Unverfügbarkeit dieser Bilder sich dem im Alltagsleben üblichen Sehen verweigert, wird der Betrachter gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen. Das Nicht- Identifizierbare fordert zum Sich-Einlassen, zur langsamen Annäherung und damit zur Anschauung dessen heraus, was gegenwärtig ist.

Wie Schoenherrs methodisches Vorgehen funktioniert, veranschaulicht ein Bonmot des Dichters Stéphane Mallarmé. Ihn soll eines Tages der Maler Edgar Degas gefragt haben: „Monsieur, wann haben Sie die Vorstellung eines Gedichts und wie setzen Sie diese Vorstellung ins Werk?“ Und Mallarmé soll geantwortet haben: “Aber Monsieur, man macht kein Gedicht mit Vorstellungen, man macht es mit Worten!“

Lutz Schoenherr macht seine Bilder mit Farben. Mit Farbklängen, um genau zu sein. Ihr Ausgangspunkt sind fast immer geometrische Grundformen wie Kreis (auch Halb- oder Viertelkreis), Quadrat und Dreieck. Natürlich sind sie nicht vollkommen bedeutungsfrei, schließlich assoziiert man unwillkürlich das ästhetische Programm des Bauhaus, der De-Stijl-Bewegung, des „offenen Kunstwerks“ (Umberto Eco).

Man behauptet sicherlich nicht zu viel, wenn man Lutz Schoenherrs Ästhetik mit der von Walter Benjamin ins Spiel gebrachten Kunst des Sich-Verlierens in Verbindung bringt. In seiner „Berliner Chronik“ schlug Benjamin vor, es käme darauf an, sich in den Städten nicht zurechtzufinden, sondern sich verirren zu lernen.

Eine Art labyrinthisches Verwirrspiel sind auch Lutz Schoenherrs Arbeiten. Indem er beispielsweise Stadtpläne und Stadtansichten von Edenkoben verrätselt bzw. „aufpixelt“, stellt er dem Betrachter die Aufgabe, die eigene Erinnerung kreativ wiederzubeleben. Was dieser Lust am Sich-Verirren entspricht, ist die Lust von Kindern, die sich mit Hilfe des Spiels aus dem System der Kontrolle und der Zwänge befreien. Kinder finden es ja viel interessanter, auf der Bordsteinkante anstatt auf dem Gehweg zu laufen. Auch der Mensch, der spielt, der „homo ludens“, versucht beim Spielen die normalen Wirklichkeitsverhältnisse zu unterbrechen. Das Spiel ermöglicht eine Entlastung vom Gewicht der Notwendigkeiten des Lebens.

Mit dieser Funktion des Spiels als alternativer Orientierung übereinstimmend stellt auch Lutz Schoenherrs schematisch konstruierte „graphic art“ eine Herausforderung zur Lockerung dar. Der Betrachter soll für einen Moment seine Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige verlagern. Auf das sozusagen Ungewöhnliche der Farbnuancen, -kombinationen, -materialien. Was er dafür braucht, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die buddhistische Haltung des Geschehenlassens.

Im günstigsten Fall werden dann die Pupillen des Betrachters wie die eines Kindes, nämlich naiv und wandungsfähig. Überhaupt nicht zu gebrauchen sind das Nachdenken, Vergleichen, Analysieren, Einordnen. Viel eher geht es um eine spielerische Aktivität, bei der bestehende Regeln suspendiert werden. Entscheidend beim Überschreiten des „Vorgeschriebenen“ ist die Bereitschaft, für einen Augenblick innezuhalten. Jetzt hat das Bild für den Betrachter nur den Sinn, den er ihm gibt. Damit die Welt so erscheint, wie sie Henry Miller in seinem Essay über den Maler Joan Miró („Das Lächeln am Fuße der Leiter“) beschrieben hat: „Für eine kurze Spanne dürfen wir uns verlieren, uns auflösen in Wunder und Seligkeit, vom Geheimnis verwandelt. Wir tauchen wieder empor zur Verwirrung, betrübt und entsetzt vom Alltagsanblick der Welt. Aber diese alltägliche Welt, die wir allzu gut zu kennen meinen, es ist dieselbe, die einzige Welt, eine Welt voll Magie, voll unausschöpflichen Zaubers“.

(Franz Littmann (* 1948) Philosoph und Autor aus Pforzheim. Franz Littmann studierte Philosophie, Pädagogik und Soziologie in Marburg und promovierte bei Dietmar Kamper. Von 1987 bis 2007 arbeitete er als Kunstkritiker und Kunstscout beim Karlsruher Stadt-Kulturmagazin „Klappe Auf“. Seit 2002 ist er Mitarbeiter der „Literarischen Gesellschaft Karlsruhe“. Franz Littmann hat sich in seinen Publikationen vornehmlich mit „Johann Peter Hebel“ auseinandergesetzt. (https://marjorie-wiki.de/wiki/Franz_Littmann)